Ich war die Gans

Ein kurzer Bericht von einer Gans aus einem Stall voller Geheimnisse.


Eine weiße Gans steht im offenen Stall, durch die Tür fällt warmes Abendlicht. Draußen, leicht unscharf im Hintergrund, sieht man einen Reiter mit rotem Mantel und Pferd, der gerade vorbeikommt. Stroh liegt am Boden, Lichtstrahlen fallen durch die Ritzen der Holzwände. Die Stimmung ist poetisch, ruhig und leicht humorvoll, als würde die Gans neugierig den Fremden beobachten. Warmes, goldenes Licht, realistischer, leicht malerischer Stil, kein Text im Bild.

Ich war die Gans.
Die eine.
Oder eine von vielen – das weiß ich nicht mehr genau. Es war dämmrig im Stall, und der Boden war kalt.
Aber ich erinnere mich an ihn.

Er roch nicht nach Stall.
Er roch nach Weg, nach Wind, nach einer Art Mensch, der zu groß war für das Verstecken und zu leise für das Heldsein.
Er schlich sich hinein, ganz vorsichtig. Als wollte er uns nicht stören. Uns – Gänse!

Dabei waren wir es, die hier zu Hause waren. Nicht er.

„Er hat nicht geschnattert.“

Er setzte sich in eine Ecke, zog den Umhang enger um sich, atmete flach.
Kein Wort. Kein Ton. Kein Blick.
Nur diese Stille – wie sie manchmal entsteht, wenn jemand viel denkt und wenig sagt.

Wir Gänse sind gut in solchen Dingen.
Wir hören, wenn jemand sich duckt, obwohl er aufrecht gehen könnte.
Wir spüren, wenn einer zu viel Herz in sich trägt, um nein zu sagen – aber zu viel Ehrlichkeit, um ja zu rufen.

Wir haben ihn nicht verraten.


So steht es in den Legenden:
„Die Gänse verrieten Martin.“

Unsinn.

Wir haben geschnattert, ja.
Aber nicht aus Bosheit.
Nicht, weil wir ihn ans Messer liefern wollten.

Wir haben geschnattert, weil wir wussten: Da versteckt sich keiner. Da hadert einer.

Und vielleicht – nur vielleicht –
haben wir laut gemacht, weil wir wollten, dass er gesehen wird.
Weil manchmal das Erkanntwerden genau das ist, was ein Mensch braucht, auch wenn er davor flieht.

„Wir waren der Klang, den er nicht machen konnte.“

So sehe ich das.

Er hatte viel in sich – Worte, Mut, Zweifel.
Aber manchmal braucht ein Mensch ein fremdes Schnattern, um den eigenen Weg zu finden.

Ob wir’s bereuen? Nein.
Wir sind Gänse. Wir tragen keine Schuld.
Aber wir wissen, was es heißt, wenn einer sich klein macht, obwohl er groß ist.

Und wenn du mich heute fragst –
ob ich ihn noch einmal verraten würde?
Dann sage ich:
Ich würde es wieder tun.


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